Der Name Bulimie (Bulimia nervosa/ Ess-Brech-Sucht) leitet sich aus dem griechischen von bous = Ochse und limos = Hunger ab. Bulimie bedeutet also Stierhunger, im ĂŒbertragenen Sinne auch verzehrender Hunger. Die Bulimie gilt als relativ junge Krankheit und wurde in der wissenschaftlichen Literatur erstmals 1979 beschrieben, da allerdings noch im Kontext der Magersucht und zwar als eine ihrer Unterformen bzw. möglichen AusgĂ€nge. Als eigenstĂ€ndige Krankheit ist sie seit 1980 anerkannt. Ebenso wie die Magersucht ist auch die Bulimie eine mĂ€dchen- bzw. frauenspezifische Krankheit.
- Das VerhÀltnis von weiblichen zu mÀnnlichen Erkrankten liegt bei 10 : 1, d.h. 90 % aller Erkrankten sind MÀdchen und Frauen, wobei man vermutet, dass der Anteil von Jungen und MÀnnern anwÀchst.
- Es wird davon ausgegangen, dass die HÀufigkeit der Bulimie zunimmt und die Zahl der Erkrankten 2- bis 3-mal höher liegt als bei der Magersucht, was wiederum bedeutet, dass 2 bis 4 % aller jungen Frauen an Bulimie erkranken. Die Dunkelziffer bei der Bulimie wird als sehr hoch eingeschÀtzt.
- Bulimie tritt in allen sozialen Schichten auf, wobei eine HÀufung bei MÀdchen und Frauen aus höheren sozialen Schichten beobachtbar ist.
- Bulimische Erkrankungen treten vor allem in stÀdtischen BallungsrÀumen auf. Symptomatik
- Zentrales Merkmal sind die HeiĂhungerattacken. ZunĂ€chst treten sie alle paar Tage, spĂ€ter tĂ€glich oder sogar mehrmals tĂ€glich auf. Hierbei werden zwischen 3.000 und 20.0000 kcal aufgenommen. Die Nahrung wird schnell und suchtartig verschlungen. Der HeiĂhungeranfall wird meist zeitlich geplant, heimlich zelebriert, und es werden Vorkehrungen getroffen, damit die Betroffenen nicht ĂŒberrascht werden können. Teilweise gelingt es aber auch, das Essverhalten ĂŒber Tage hinweg streng zu kontrollieren oder völlig symptomfrei zu leben, insbesondere bei positiven VerĂ€nderungen im Leben der Betroffenen.
Diagnose-Kriterien
- Wiederkehrende Episoden von Heisshungerattacken, das heiĂt, rascher Verzehr groĂer Nahrungsmengen in relativ kurzer Zeit, gewöhnlich weniger als zwei Stunden.
- Das GefĂŒhl, das Essverhalten wĂ€hrend der EssanfĂ€lle nicht unter Kontrolle halten zu können.
- Beendigung der EssanfĂ€lle durch selbstinduziertes Erbrechen und/oder Gebrauch von AbfĂŒhrmitteln (Laxantien).
- Wiederkehrendes ungeeignetes Verhalten, um einer Gewichtszunahme entgegen zu steuern, wie strenge DiÀten oder Fastenkuren.
- Einnahme von AppetitzĂŒglern, Diuretika oder SchilddrĂŒsenprĂ€paraten.
- ĂbermĂ€Ăige körperliche BetĂ€tigung.
- Durchschnittlich mindestens zwei EssanfĂ€lle pro Woche ĂŒber einen Mindestzeitraum von drei Monaten.
- Andauernde ĂŒbertriebene BeschĂ€ftigung mit Figur und Gewicht.
- Gewichtsphobie und/oder krankmachende Handlungsmuster im Umgang mit Nahrung.
- WĂ€hrend der Attacken können ĂŒber die HĂ€lfte der Betroffenen die Nahrungsaufnahme ĂŒberhaupt nicht kontrollieren, ca. 25 % gibt an, teilweise Kontrolle zu haben. Gegessen werden hauptsĂ€chlich kalorienreiche Nahrungsmittel, die sie sich im sonstigen Alltag verbieten: SĂŒĂigkeiten, Eis, Kuchen, Kekse, Toastbrot, Torten etc., also so genannte Dickmacher. AuĂerhalb der bulimischen Episoden legen die Betroffenen groĂen Wert auf eine gesunde ErnĂ€hrung.
- Ein weiteres Merkmal ist das Erbrechen. 2/3 der Betroffenen erbrechen regelmĂ€Ăig im Anschluss an eine Heisshungerattacke, manchmal auch mehrmals hintereinander, bis der Magen vollstĂ€ndig entleert ist. Die HĂ€lfte der Bulimikerinnen nimmt AbfĂŒhrmittel, 2/3 AppetitzĂŒgler. Zudem gibt es Bulimikerinnen, die unabhĂ€ngig von EssanfĂ€llen jede Mahlzeit erbrechen.
- Das Erbrechen haben die Betroffenen auf verschiedene Weise entdeckt â einige ganz alleine fĂŒr sich, durch Tipps aus Zeitschriften, die meisten jedoch auf RatschlĂ€ge von Bezugspersonen.
- Als Auslöser fĂŒr einen Essanfall wird meist »das unwiderstehliche Verlangen nach Essen« beschrieben. Die Betroffenen berichten, unmittelbar vor einem Anfall folgende GefĂŒhle zu empfinden: SpannungszustĂ€nde, Isolation, Frustration, Langeweile, Angst, Wut, innere Leere.
- Um SpannungszustĂ€nde abzubauen, kann es zusĂ€tzlich zu selbstverletzendem Verhalten kommen (Schnittverletzungen, ZufĂŒgen von Brandwunden etc.)
- Viele Betroffene ĂŒberprĂŒfen stĂ€ndig (zum Teil mehrmals tĂ€glich) ihr Gewicht. HĂ€ufig ist zu beobachten, dass sie ein bestimmtes Gewicht anstreben, das ca. 5 bis 10 kg unter dem aktuellen Gewicht liegt.
- Bulimische MĂ€dchen und junge Frauen zeigen oft ein geringes SelbstwertgefĂŒhl, dass durch die EssanfĂ€lle weiter reduziert wird.
- Einhergehend mit der Bulimie sind bei vielen Betroffenen depressive Verstimmung bis hin zu Suizidversuchen zu beobachten.
- Durch den Missbrauch von verschiedenen Medikamenten, die eine Gewichtszunahme verhindern sollen, kann es zu einer zusÀtzliche AbhÀngigkeit kommen.
- Bulimikerinnen zeigen Merkmale mangelnder Impulskontrolle.
- Viele Bulimikerinnen haben Phasen, in denen sie regelmĂ€Ăig LadendiebstĂ€hle begehen. Dies ist zum einen auf den groĂen Nahrungsmittelverbrauch, aber auch auf die Verwendung der genannten Medikamenten und nahrungsmittelergĂ€nzenden VitaminprĂ€parate zurĂŒckzufĂŒhren, die teuer sind.
- Mindestens 1/3 der erwachsenen Bulimikerinnen wird wegen anderer Suchterkrankungen â besonders Alkoholismus und MedikamentenabhĂ€ngigkeit â behandelt.
Typus-Spezifizierung
a) »Purging Typ«: regelmĂ€Ăig selbst induziertes Erbrechen oder Missbrauch von Laxantien, Diurektika und/oder AppetitzĂŒglern.
b) »Non-purging Typ«: andere kompensatorische Verhaltensweisen, wie Fasten oder exzessive körperliche BetÀtigung.
Bulimikerinnen sind von ihrer Ă€uĂeren Erscheinung eher unauffĂ€llig, d.h. bei den meisten liegt das Gewicht im Bereich zwischen Normal- und Idealgewicht. AuffĂ€llig sind jedoch zum Teil starke Gewichtsschwankungen von bis zu 20 kg, was dazu fĂŒhrt, dass manche Bulimikerinnen eine Garderobe haben, die von KleidergröĂe 36 bis KleidergröĂe 44 reicht. Ein Verzicht auf das Erbrechen, der immer wieder probiert wird, bestĂ€tigt bei den Betroffenen die gefĂŒrchtete Gewichtszunahme und lĂ€sst den Kreislauf aufs Neue beginnen.
Die Betroffenen fĂŒhlen sich dem herrschenden Schlankheits- und Schönheitsideal stark verpflichtet. Zudem streben sie nach dem Ideal der erfolgreichen Karriere- und Familienfrau, die alles hinkriegt, möglichst mit einem hinreiĂenden LĂ€cheln auf den Lippen. Zu Beginn der Essstörung sind sie oft ganz aktive MĂ€dchen, die sich im schulischen Bereich und in FreizeitzusammenhĂ€ngen engagieren.
Die Symptome werden so lange wie möglich geheim gehalten, so dass eine Bulimie ĂŒber Jahre hinweg unentdeckt bleiben kann. Die durchschnittliche Dauer von Beginn der Essstörung bis zum Therapiebeginn betrĂ€gt 4 bis 7 Jahre.
Weiterhin wird davon ausgegangen, dass 80% der Bulimikerinnen sich ĂŒberhaupt nicht in Behandlung begeben. Mit fortschreitender Sucht wird der Tagesablauf immer mehr von der Bulimie bestimmt. FrĂŒhere Interessen und Hobbies werden aufgegeben, soziale Kontakte können kaum mehr aufrecht erhalten werden und die Betroffenen leben immer isolierter. Die körperlichen FolgeschĂ€den treten in der Regel nicht so schnell wie bei der Magersucht auf, da sich die Störung meist langsam aufbaut.
Im Verlauf treten auf:
- Angegriffenes Zahnfleisch und Zahnschmelz.
- Chronische Halsschmerzen, Heiserkeit und EntzĂŒndungen und Verletzungen der Speiseröhre.
- Menstruationsstörungen bzw. Ausbleiben der Menstruation.
- SchĂ€den an Leber, BauchspeicheldrĂŒse, Nieren.
- Herz-Kreislauf-Störungen, d.h. SchwindelanfĂ€lle, MĂŒdigkeit, aber auch Herzrhythmusstörungen.
- Störungen bei der Darmentleerung. Bei Einnahme von AbfĂŒhrmitteln kann chronische Verstopfung entstehen.
- Vitaminmangel und Störungen des Mineralstoffhaushalts.
- Verschlechterung von Haut und Haaren. Auch bei der Bulimie zeigt sich, dass die Ăberwindung ohne therapeutische Hilfe Ă€uĂerst schwierig ist.
- Etwa 50 % der Bulimikerinnen sind nach 2 bis 10 Jahren symptomfrei.
- 20 % der Betroffenen zeigen weiterhin bulimische Symptome.
- Bei den ĂŒbrigen 30 % wechseln sich symptomfreie Zeiten mit RĂŒckfĂ€llen ab. Besonders bei einschneidenden Lebensereignissen wie z.B. Auszug aus dem Elternhaus, Wohnortwechsel, Studienabschluss, Schwangerschaft kann es zu einer VerĂ€nderung der Bulimie kommen.
- Es wird vermutet, dass im Erwachsenenalter die Sterblichkeitsrate bei Bulimikerinnen höher liegt als bei einer gesunden Vergleichsgruppe.
VGL. DAZU INSGESAMT DHS 1997,
KRĂGER U.A. 1997, STAHR U.A. 1995
Auszug aus:
Nichts leichter als Essen?! – Essstörungen im Jugendalter
Eine Handreichung fĂŒr Schule und Jugendarbeit; Stuttgart 2000, 64 S.
Herausgeber: Ministerium fĂŒr Kultus, Jugend und Sport Baden WĂŒrttemberg
Autorinnen: Dagmar PreiĂ; Anja Wilser, MĂ€dchengesundheitsladen